In Richtung Zukunft dreht sich der Mensch um die eigene Achse, hin zu vorangegangen Ereignissen. Zukunft als Prozess von verarbeiteten Ereignissen schreibt sich in Ort und Zeit, in Leib und Bewusstsein des Menschen ein, schreitet kontinuierlich fort, innerhalb der Lücke zwischen Erlebtem und Gedachtem, die sein Dasein ausmacht. Der Verarbeitungsprozess setzt einen Leib voraus, mit dem der Mensch wahrnimmt. Es setzt ebenso einen Ausgangspunkt voraus, von wo aus der Mensch blickt, zurück, und auf die Gegenwart.
An der Frage des Ausgangspunkts scheidet sich der Zukunftsdiskurs in Afrika, den derzeit zwei Autoren federführend lenken: Felwine Sarr, seines Zeichen Ökonom und Künstler aus Senegal und der in Südafrika lebende Historiker und Philosoph Achille Mbembe aus Kamerun. Grundlagen des Diskurses sind die Essays Afrotopia von Felwine Sarr[1] und Ausgang aus der Langen Nacht von Achille Mbembe[2]. Beide Denker fragen sich jeweils, wie der afrikanische Mensch zu seiner eigenen Identität kommen und sich von der Dominanz des Westens lösen kann. Sie kommen auf grundverschiedene Antworten.
Geht es in Afrotopia um Afrika als Territorium, blickt Ausgang aus der langen Nacht auf den afrikanischen Menschen inmitten urbaner Welten. Felwine Sarr spricht sich dafür aus, das spezifisch Afrikanische wiederzuentdecken, Achille Mbembe hinterfragt, was „afrikanisch sein“ heute bedeutet. Wo sich ihre Gedanken kreuzen und trennen, wird deutlich, was Menschen in und aus Afrika heute durchleben, es zeigt sich, welches Kolonialerbe ihre Gesellschaften zu tragen haben. Die theoretischen Einsichten und praktischen Beispiele beider Autoren betreffen Kulturen über Afrika hinaus, sie werden die Zukunft der Menschheit insgesamt prägen.
Gesellschaften in Afrika: gründen auf Gemeinschaftssinn
Welche Kur für Afrika? fragt Felwine Sarr, und meint die Kur für den seelischen Riss, den Afrikaner erfahren haben – durch Fremdherrschaft, Enteignung, Bruch von Traditionen und menschlichen Beziehungen: Hinterlassenschaften des Sklavenhandels und der Kolonialzeit. Es ist nicht das kranke Afrika, es ist das krank gemachte Afrika, das er im Blick hat. Nicht ein Afrika, deren Bewohner sich nicht selbst zu helfen wüssten. Eher haben sie es verlernt, die Heilmethoden bei sich zu finden und sich jener Eigenschaften bewusst zu werden, die den Riss widerstanden haben. Diese liegen im Alltag zwischenmenschlicher Beziehungen. Es sind Ausprägungen der für Afrikaner spezifischen Fähigkeit, gemeinsam zu handeln. Sie äußert sich etwa in der informellen Wirtschaft, in der Musik und der Religion.
Im Gegensatz zur materiellen Wirtschaft sind auf dem Kontinent Tauschformen persönlichen Charakters ausgeprägt, bezeichnet als „relationelle Ökonomie“. Sie gründet auf zwischenmenschlichen Beziehungen, die miteinander im Austausch stehen. Damit geht sie der materiellen Wirtschaftsform voraus. Weil nicht das Material, sondern die zwischenmenschliche Beziehung den Wert für jene Handelnden darstellt, erfährt jene Beziehung einen Selbstwert, und steht somit außerhalb des klassischen Wirtschaftsverständnisses.
Zum Beispiel die senegalische Sufie-Bruderschaft der Murīdīya praktiziert solch eine relationelle Ökonomie. Arbeit und Mühe sind ihr genauso eigen wie Engagement, Talent, und die Befolgung der spirituellen und gemeinschaftlichen Belehrung (genannt „ndiguël“). Bei ihrem Handelsaustausch halten sie die Transaktionsgebühren gering, bieten ein zinsloses Eigenkapital und schaffen Erleichterungen für die Rückerstattung. In Senegal machen die Murīdīya den wesentlichen Sektor der informellen Wirtschaft aus, etwa im Kommerz, im Bau-, Transport- und Textilwesen, bei denen 60% der aktiven Bevölkerung angestellt sind und für 54,2 % des Bruttosozialproduktes verantwortlich zeichnen.
Mit dem Beispiel veranschaulicht Felwine Sarr, wie eine Gemeinschaft den Handel auf ihre Lebensform anpasst, und daran wirtschaftlich und solidarisch wächst. Es steht exemplarisch für eine fruchtbare Kultur. Ihre Beziehung zur Tauschware zu bestimmen, feit sie vor der Wirtschaftsallmacht, und davor, so kann man daraus folgern, dass Geld zum Selbstwert wird. Felwine Sarr hebt das Wirtschaftsmodell in sein Zukunftskonzept für den afrikanischen Kontinent: Traditionelle Praktiken werden zu Richtungsweisern. Es geht darum, sich zu „verankern, um sich archaischer und damit neuer zu machen.“
Die eigenen Wissensquellen wiedererlangen, die Zukunft wiedererlangen
Wenn Afrikaner es verlernt haben, die Heilmethoden bei sich zu finden, dann vor allem deshalb, weil ihnen die Wurzeln fehlen. Sie sind mit der Sklaverei und der Kolonisierung durch den Westen abgerissen worden. Deshalb spricht Felwine Sarr davon, der Afrikaner könne seine eigene Zukunft wiedererlangen. Ein Gedanke, der widersprüchlich erscheint, wenn er im Licht der Philosophie der Aufklärung und ihres Fortschrittsethos steht, der noch heute westliche Gesellschaften prägt – und den Anspruch auf Deutungshoheit gegenüber anderen Gesellschaften erhebt.
Verknüpft der Westen Wissen und damit Welterfahrung meist mit dem Fortschritt in den Naturwissenschaften, sind in afrikanischen Kulturen Wissensquellen relevant, die Gemeinschaften seit jeher bilden und stärken, wie Felwine Sarr herausstellt: „therapeutisches Wissen, umweltbezogenes, historisches, psychologisches, ökonomisches und agronomisches Wissen.“
Dieses Wissen findet sich in unterschiedlichen kulturellen Ausdrucksformen wieder, vor allem in Mythen und der oralen Kulturüberlieferung. Es hat das „Überleben, das Wachstum und die Nachhaltigkeit“ afrikanischer Gesellschaften gesichert. So soll es laut Felwine Sarr darum gehen, afrikanische Kulturen „in ihren eigenen Kategorien zu befragen“, um im größeren Rahmen nach freien Formen menschlicher Existenzen zu fragen – danach, wie Gemeinschaften ein „harmonisches Gleichgewicht“ unter all jenen Existenzmodellen finden können.
Antikolonialdiskurs hat westliches Monopol hinterfragt
Auch Achille Mbembe hebt den Gemeinschaftssinn in Afrika hervor, insbesondere seine Artikulation im Entkolonialisierungsprozess ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mbembe begreift ihn als eine philosophische Dimension, als „Wille zur Gemeinschaft“ und „Wille zum Leben“, und stellt ihn dem von Nitzsche geprägten „Willen zur Macht“ gegenüber.
Die Überwindung der rassistischen Herrschaft stellt einen „Schlüsselmoment in der Geschichte der Moderne dar“. Denn sie wurde von einem antikolonialen Diskurs getragen, der den Anspruch des Westens hinterfragte, „über die Sprache und die Formen, die das Ereignis des Menschen annehmen kann, zu verfügen, ja sogar ein Monopol auf die Idee der Zukunft schlechthin zu besitzen“.
Sich vom Monopol des Westens zu lösen, bedeutete ein „Streben nach einer Zukunft, die nicht von vornherein feststehen, sondern übernommene oder ererbte Traditionen, Interpretationen, Experimente und Neuschöpfungen mischen sollte.“ Die diskursive Bewegung hin zu „anderen möglichen Welten“ ist bis heute allerdings nicht in die westliche Philosophie übergegangen.
Jenen Diskurs kennzeichnen drei Bewegungen, die sich in der Philosophie und in den Künsten äußerten: zunächst der „afrikanische Nationalismus“. Dieser ist nicht mit dem europäischen Nationalismus gleichzusetzen, der Ende des 19. Jahrhunderts entstand, die „Rasse“ konstruierte und damit die Kolonialisierung legitimierte. Vielmehr entstand der „afrikanische Nationalismus“ durch den Befreiungskampf, den die Kolonisierten gegen die Kolonialmacht führten[3]. Darauf folgten der „afrikanische Sozialismus“ und seine Neuinterpretationen des Marxismus sowie der Panafrikanismus.
Den antikolonialen Nationalismus vertraten die Literaten und Philosophen der „Negritude“-Bewegung, namentlich Léopold Sédar Senghor und Aimée Césaire. Sie sprachen sich für die kulturelle Anerkennung der schwarzen Völker weltweit aus. Die panafrikanische Staatsform etwa unter Kwame Nkrumah, dem ersten Präsidenten Ghanas, solidarisierte transnational mit der „Rasse“ und international mit dem Antiimperialismus. Ausprägungen des „afrikanischen Sozialismus“ finden sich beim Revolutionär Thomas Sankara und seinem panafrikanischen Nationalismus.
Afropolitanismus: Der Diskurs der Zukunft?
Für Achille Mbembe sind diese Bewegungen heute nicht mehr tragbar. Prägend sind die Beispiele, wo der „afrikanische Nationalismus“ als Staatsform in die Ideologie ehemaliger Kolonialherren kippte, etwa als Rassenideologie in Südafrika. Der Panafrikanismus, auf der anderen Seite, versperre mit seiner „Rassensolidarität“ den Blick für die kulturelle Vielfalt in Afrika. Es gebrauche heute einer anderen Ausdrucksweise für das Geistesleben in Afrika, in der die Kunst, die Philosophie und die Ästhetik, „der ganzen Welt etwas Neues und Bedeutendes zu sagen haben“.
Den Weg findet Achille Mbembe im „Afropolitanismus“. In der Literatur setzte diese Bewegung in den 70er Jahre mit den Autoren Ahmadou Kourouma und Yambo Ouologuem ein. Sie ließen Fragen der Herkunft, Geburt und Abstammung verschwimmen, und antworteten auf die „Selbsterklärung“ der Negritude mit Formen der „Selbsterzeugung“, bei der die Realität und das Subjekt in Frage gestellt werden. Während die Negritude den Verlust beklagt, verdingt sich afropolitane Literatur in Exzess und Überschuss, erkennt die unscharfe Realität an und begibt sich in einen Wirbelsturm. Die Texte von Sony Labou Tansi sind Beispiele dafür.
Es geht um das Bewusstsein des „Ineinandergreifens von Hier und Woanders“, eine „Relativierung der Wurzeln und ursprünglichen Zugehörigkeiten“ und die „Fähigkeit, sich im Gesicht des Fremden wiederzuentdecken“. Achille Mbembe verortet den heutigen Afropolitanismus insbesondere im kosmopolitischen Südafrika, bei Akademikern und tiefschürfender bei Künstlern, die innerhalb und außerhalb Afrikas leben, sich zwischen Kontinenten bewegen und „die Erfahrung mehrerer Welten machen“. Sie wären am besten in der Lage, die Zukunft Afrikas, die Zukunft der Welt neu zu denken.
Sind sie das? Jede Epoche sucht nach eigenen Ausdrucksformen und Fragen für ihren weiteren Verlauf. Der aktuelle Zukunftsdiskurs in Afrika drängt sich in einem Moment auf, in dem die Unzulänglichkeiten der vom Westen gepriesenen humanen Werte sichtbar werden. Zu einem Zeitpunkt, wo westliche Staaten mit ihrer inhumanen Asyl- und Wirtschaftspolitik deutlich demonstrieren, dass jene demokratischen Werte allenfalls nominellen Charakter haben. Wo Materialität und Individualismus zwischenmenschliche Beziehungen verarmen und Fremdenfeindlichkeit begünstigen, die sich in aktuellen rechtspopulistischen Bewegungen niederschlägt.
Die Frage nach der Zukunft Afrikas ist deshalb entscheidend, weil Europa mit Afrika ostentativ sein Wirtschaftswachstum plant – eine zeitgenössische Ausdrucksform europäischer Politik, die Bewohner Afrikas zu Objekten abzuwerten. Das äußert sich gleichermaßen in den Geisteswissenschaften und den Künsten. Dort dominiert weiterhin der westliche Kanon, der ästhetische und kreative Erzeugnisse aus Afrika mit Begriffen wie „afrikanische Literatur“ und „Weltmusik“ zu einer Masse verdinglicht und den Westen zum Referenzpunkt für Lebenswelten auf dieser Erde macht.
Ihre Geschichte und Tradition zu kennen, ihre Künste und Geisteswissenschaften wiederzuentdecken, vermag unumgänglich, wollen sich die Völker Afrikas als vollwertige Subjekte empfinden. Nach 500 Jahren fortwährender Fremdherrschaft durch den Westen sitzt der Einschnitt im Gemeinschaftsleben, im ererbten kollektiven Gedächtnis, tief.
Angesichts dessen vermag der Afropolitanismus, den Achille Mbembe verficht, derzeit am wenigsten Antworten dafür zu geben, wie Afrika seine Zukunft jenseits westlicher Dominanz vollziehen kann. Einerseits, weil er nicht afrikanische Gesellschaften insgesamt, sondern lediglich privilegierte Gruppen von Künstlern und Intellektuellen anspricht, die bereits andere Welten erlebt haben und mit ihrer eigenen vergleichen konnten. Anderseits, weil er verfrüht ist. Denn er setzt voraus, dass der Afropolitane eine Selbsterfahrung durchgemacht hat. Viele Afrikaner allerdings definieren sich über geistige und materielle Werte, die der Westen vorgibt.
Neue Bewegungen beleben den Antikolonialdiskurs
Dies zu überwinden, bedeutet, bewährte Praktiken des Gemeinschaftlichen zu stärken – besonders innerhalb einer Nachbarschaft und einer Region – die trotz forcierter Spaltung in der Kolonialzeit Spuren hinterlassen haben. Mit der Rückbesinnung auf das, was sie im Alltag zusammenhält, könnten afrikanische Gesellschaften ihre ihr eigenen Werte entwickeln und Staatsmodelle aufbauen, die sich damit ergänzen. Denn genau darin misst sich eine Gesellschaft: in der Art, wie die Menschen arbeiten, sich lieben, leben, sterben, und wie dies im Gleichgewicht mit der Regierungsform steht. Eine Gesellschaft bemisst sich nicht allein an der Einhaltung staatlich verfasster Prinzipien, wie es der westliche Verfassungspatriotismus vorgibt. Im Gegenteil kann die Besinnung auf gesetzlich verankerte humanistische Grundwerte von tatsächlicher politischer Praxis ablenken und Verbrechen wie Kriege, Fremdenfeindlichkeit und andere inhumane Taten verschleiern.[4]
Der Spalt zwischen Erlebtem und Gedachtem, zwischen politischen Zielen und Praxis macht das politische Moment und damit das Zukunftsprojekt einer Gesellschaft aus. Er kann nicht für jede gleichermaßen überwunden werden, weil jede Gesellschaft ihre eigene Geschichte, ihre Lebensansichten und Ausdrucksformen hat. Sie wiederzuentdecken, zu pflegen, zu verteidigen und mit anderen Lebensmodellen in Einklang zu bringen, macht den Entkolonisierungsprozess afrikanischer Gesellschaften aus. Hierin verschränkt sich der frühere Antikolonialdiskurs mit Felwine Sarrs Reflexionen.
Es liegt am Vermächtnis der Kolonialzeit, dass der antikoloniale Diskurs zwei Generationen nach seiner Entstehung heute auflebt und den Ausgangspunkt für die Zukunft Afrikas stellt. Er bekleidet den Artivismus der einflussreichen Musiker Didier Awadi und Tiken Jah Fakoly. Er befeuert die Proteste zivilgesellschaftlicher Bewegungen, namentlich „Balai Citoyen“ in Burkina Faso und „Y‘en a marre“ im Senegal, die 2012 bzw. 2014 jeweils den Sturz ihres Staatspräsidenten bewirkten und fortan ihre Gesellschaften für bewusste und verantwortliche Lebensformen sensibilisieren. In der Tradition Thomas Sankaras wurzelt ihr Handeln darin, „das Gute aus der Vergangenheit zu schöpfen, aus unseren Traditionen sowie das Positive anderer Kulturen, um unserer eigenen Kultur eine neue Dimension zu verleihen“.[5]
Derzeit gestalten Afrikas Künstler, Denker und Aktivisten ein Bewusstsein für politisches Handeln, das jedwede Form objektiver Politik zu überleben vermag. Der aktuelle Zukunftsprozess in Afrika schreitet den Entkolonialisierungsprozess auf dem Kontinent fort. Er hinterfragt dabei Lebensmodelle, Denkmuster und Ausdrucksformen des Westens. Und setzt damit die Zukunft der Menschheit in Gang.
Von Arlette-Louise Ndakoze
[1] Felwine Sarr, Afrotopia, Paris (Philippe Rey) 2016. [2] Achille Mbembe, Ausgang aus der Langen Nacht. Versuch über ein entkolonialisiertes Afrika, Berlin (Suhrkamp) 2016. [3] Joseph Ki-Zerbo, Histoire de l’Afrique Noire, Paris (Hatier) 1978, S. 413-425. [4] Vgl. Maurice Merlau-Ponty, Humanité et Terreur. Essai sur le problème communiste, Paris (Gallimard) 1947,[X]. [5] Thomas Sankara, Die Ideen sterben nicht!, Berlin (AfricAvenir International e.V.) 2016
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