Was ist individuell und was kollektiv? In den Fugen von Johann Sebastian Bach markiert der „Contrapunctus“ den Moment, wo eine Stimme in die nächste übergeht. Im Roman Contrapunctus (2015, Unrast) wirft Michael Götting vier Charaktere, zwei Frauen und zwei Männer, auf sich selbst und aufeinander zurück: Indigo, Olaudah, Rutha-Pong und Habibi. Die Charaktere sind Deutsche afrikanischer Herkunft, die sich im Spiegel ihrer Außen- und Innenwelt erfahren, inmitten der deutschen Gesellschaft und der Spuren ihrer kolonialen Vergangenheit. Michael Götting hatte das Buch 2002 geschrieben, lange bevor es erschien. Lange bevor der Deutsche Kolonialismus – wie heute, anno 2018 – ein Thema in der deutschen Öffentlichkeit wurde.
Beim Lesen ist mir aufgefallen, dass es nicht eindeutig ist, wie die Charaktere in dem Buch miteinander verbunden sind.
Ja, ich habe 1999 angefangen, das Buch zu schreiben, dann bis 2002. Am Anfang gab es nur den einen Charakter, das war Indigo. Sie war die einzige Erzählerin. Dann, im Verlauf der Arbeit an dem Roman, ist klar geworden, da sind noch andere Figuren. Und da sind noch andere Schwarze Figuren, die andere Aspekte des Schwarz- oder Afrodiasporischseins in Deutschland zeigen. Die kamen im Verlauf des Schreibens dazu und sind immer mehr in die Geschichte reingetreten, und ich dachte, ich gehe einfach mit und folge der Intuition.
Sehr interessant, zu hören, dass Indigo der erste Charakter war, denn sie scheint mir zentral, obwohl relativ inaktiv: Vieles geschieht um sie herum und in ihrem Kopf. Und das, was geschieht, trägt sich wie zu einem Bild zusammen, und diese Bilder erscheinen mir wie Traumata.
Ich sehe es auch ganz ähnlich. Indigo ist eine sehr wichtige Figur. Sie durchlebt diese traumatischen Erfahrungen physisch oder auch in ihrem Geist. Ich denke, es gibt so was wie kollektives Bewusstsein, kollektive Erinnerung und Menschen, die das stark erleben. Ich denke, dass das in der Figur zum Ausdruck kommt. Traumata, die mit der kolonialen Geschichte verbunden sind, mit der Geschichte der Versklavung .
Sehr interessanter Punkt: Die Geschichte der Versklavung. Es gibt einen Moment, wo Indigo mit Olaudah flieht und Security-Männer hinter ihnen her sind, die Englisch sprechen. Dann erwähnt die Erzählerin, dass sie wie Sklaventreiber sind. An diesem Punkt wird klar, dass es sich bei den Protagonisten um afrikanischstämmige Menschen handelt. Das ist relativ indirekt. Haben Sie darüber nachgedacht, ob Sie das explizit machen wollen, woher die Personen stammen?
Ja, das ist, was mich beim Schreiben lange beschäftigt hat. Toni Morrison hat auch dazu ein wichtiges Buch geschrieben – Im Dunkeln spielen – und dabei auch die Frage aufgebracht: Wenn es nicht erwähnt wird, ob eine Person Schwarz ist, oder ich nicht bestimmte Bezüge herstelle, dann gehe ich automatisch davon aus als Leser, Leserin, dass die Person weiß ist. Und für mich war es ein wichtiger Punkt beim Schreiben. Gerade auch bei der Überlegung: Wie schreibe ich über die Erfahrung von Schwarzen Menschen, von afrikanisch stämmigen Menschen in Deutschland, in Europa? Wie stelle ich dar, dass die Person Schwarz ist? Vielleicht auch, ohne sie dabei äußerlich zu beschreiben oder das explizit auszudrücken. Ich hab‘ einfach da immer weiter versucht, den richtigen Weg für mich zu finden oder auch den richtigen Weg für diese spezielle Geschichte. Also, ich muss ehrlich sagen, ich bin ganz zufrieden damit, dass es nicht so ganz explizit gesagt wird, sondern, dass sich das aus dem Kontext erschließt: worüber die Person spricht, wie die Person spricht und welche Perspektive sie hat, welche Lebenserfahrung.
Es gibt einen Charakter in der Geschichte, die Großmutter von Indigo, wo man versteht, Indigo ist teils deutsch. In der Großmutter spiegelt sich, was übrig geblieben von der kolonialen Vergangenheit ist : der Rassismus. Ich fragte mich, verbunden mit dem Titel Contrapunctus: So, wie die Großmutter diese Musik genießt und sagt, „da musst du richtig zuhören“, inwiefern sie richtig zuhört oder ihrem Bild verhaftet bleibt, als sie Zuschreibungen gegenüber Schwarzen Personen oder Migranten macht. Mir schien das ein Wendepunkt, wobei nichts verändert wird. Es ist eigentlich ein Zustandsmoment: eine Großmutter, die daran glaubt, dass sie diese Drehung versteht, diese neue Stimme. Aber eigentlich passiert in ihr nichts Neues.
Das ist Indigos Familie und das ist Indigos Großmutter. Sie ist im Kreis der Familie, in einem großen Teil ihrer Erzählung. Ich denke auch, das ist eine ganz wichtige Szene, die in der Mitte des Buchs steht und die Idee, die kontrapunktischen Kompositionsweisen aus der Musik in die Literatur zu transferieren, reflektiert. Gerade die koloniale Geschichte, was wir jetzt sehen, was immer stärker auch ins Bewusstsein in Deutschland rückt – 2002, als die Geschichte spielt, als ich das Buch zu Ende geschrieben habe, da war die Bereitschaft, sich in Deutschland mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands zu befassen noch sehr sehr weit weg. Ich denke, das ist in dem Buch spürbar. Auch in dieser Szene, in der Familie, die im Grunde genommen – ganz richtig – eigentlich das Nichtzuhören thematisiert. Wo Indigo keine wirkliche Stimme hat. Alles passiert um sie herum, aber sie wird eigentlich nicht gehört. Und wenn sie in Ohnmacht fällt, ist sie in einem ganz anderen Raum als der Rest der Familie, und ist eigentlich weit weg. Ich hatte so ein bisschen die Hoffnung, dass ich dadurch einen Zustand darstellen kann, der, glaube ich, in Deutschland immer noch ein Thema ist: dass die Perspektiven von afrikanischen, afrodiasporischen, Schwarzen Menschen noch immer recht verborgen sind und nicht selbstverständlich Teil der Erzählung in Deutschland.
Das mit dem Verborgenen: Vieles passiert in geschlossenen Räumen, in Räumen. Olaudah ist im Gefängnis. Es gibt eine Szene in der U-Bahn. Szenen, die sich viel im Kopf abspielen. Und Ruth-Pong, die bei Nacht arbeitet. Da wird ein Gefühl verstärkt. Die Handlung ist, was sich innerhalb dieser Personen abspielt.
Ich kann mich erinnern, dass ich verhältnismäßig früh den Wunsch hatte, über Bewusstsein zu schreiben. Ich glaube, dass sich Schwarze Communities auch gerade damit sehr befassen und immer befasst haben, weil es ganz klar auch darum geht, erst mal selbst ein Bewusstsein für die eigene Geschichte zu entwickeln, sich Wissen anzueignen und eigene Vorstellungen zu etablieren – bei all dem, was über Schwarze Menschen, über afrikanische Menschen, in den vergangenen paar hundert Jahren erzählt oder an Mythen entwickelt worden ist. Und dann ist es einfach auch ein Bewusstseinsprozess, der recht lange dauert, sich darüber klar zu werden: Wie verstehe ich eigentlich meine Geschichte als Schwarze Person, meine Gegenwart, meine spezielle Situation, vielleicht auch speziell im deutschen Kontext? Und deswegen habe ich mir gedacht, in der Darstellung von Schwarzsein in Deutschland, Afrikanischsein in Deutschland, ist es wichtig, über Bewusstseinsprozesse oder Bewusstwerdungsprozesse zu sprechen. Und wenn Bewusstwerdungsprozesse größer werden und sich auf eine Gesellschaft beziehen, dann sehen wir: auch so was wie kollektives Bewusstsein verändert sich, wenn mehr Wissen kommt, wenn mehr Bewusstheit über die Präsenz Schwarzer Menschen da ist. Und dann eben auch, wie wir es jetzt sehen, mehr Bewusstheit darüber, dass es eine koloniale Vergangenheit gibt und dass die Konsequenzen hat, auch noch in der heutigen Zeit. Deswegen war es für mich wichtig, über diese Bewusstseinsprozesse oder Bewusstwerdungsprozesse zu schreiben. Was passiert im Bewusstsein und wie wirkt sich das auf unsere Leben aus? Ich denke, dass Literatur dafür sehr geeignet ist, weil sie im Bewusstsein abläuft. Was wir lesen sind eigentlich nur Worte, aber wir bekommen dann Bilder, bestenfalls, und bestimmte Vorstellungen, und das, was wir lesen, knüpft an etwas an, was wir bereits wissen oder zu wissen glauben oder verinnerlicht haben. Ich glaube, dass Literatur dadurch ein sehr gutes Mittel ist, Bewusstsein zu thematisieren.
Arlette-Louise Ndakoze
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